Wenn das Gebäude nicht mehr trägt - Eulàlia Rovira (ES) & Adrian Schindler (FR)
Rathausplatz, 45657 Recklinghausen
This text is in german only.
WENN DAS GEBÄUDE NICHT MEHR TRÄGT
EIN GESPRÄCH FÜR VIER ARCHITEKTURMODELLE VON EULÀLIA ROVIRA UND ADRIAN SCHINDLER
AUFGEFÜHRT AM 20. JULI 2014 AUF DEM RATHAUSPLATZ RECKLINGHAUSEN
AN DER BRONZE “DIE BÜRGER TRAGEN IHRE STADT” (HEINRICH BROCKMEIER, 1985), AUF EINEM KREISFÖRMIGEN HOLZPODEST, BESPANNT MIT ROTEM TEPPICH, TREFFEN SICH VIER SELBSTFAHRENDE ARCHITEKTURMODELLE. SIE UMKREISEN DREI NACKTE FIGUREN - ZWEI MÄNNER UND EINE FRAU - DIE EINE REDUZIERTE DARSTELLUNG DER STADT TRAGEN. DREI VON DEN MODELLEN SPIEGELN DIE IN DER SKULPTUR GEZEIGTEN WAHRZEICHEN DER STADT WIEDER: DAS RATHAUS, DIE ST. PETRUS KIRCHE UND EINE ZECHE. EIN VIERTES HAT SICH DER GRUPPE GENÄHERT: DAS NEUE, GEGENÜBER DEM RATHAUSPLATZ GELEGENE EINKAUFSZENTRUM „PALAIS VEST“. ALLE MODELLE STEHEN VOR DER SKULPTUR UND BETRACHTEN SIE.
RATHAUS: Sehen Sie, nach bald 30 Jahren immer noch überzeugend.
ZECHE: Ja, ein fröhliches Familienfoto!
KIRCHE (zeremoniell): Alle wie aus einem Guss.
PALAIS (aus dem Hintergrund): Obwohl, eine Hochglanzpolitur würde ihr besser stehen.
RATHAUS (verletzt): Ach wirklich? Was meinen Sie damit? Sieht sie schon veraltet aus? (optimistisch) Ich sehe sie jeden Tag und finde, sie sieht aus wie an ihrem ersten.
KIRCHE: Na ja, jeder hat ein anderes Zeitgefühl.
RATHAUS: Zeitgefühl, Zeitgefühl... Wir werden doch nicht schon über Falten sprechen? Ich habe mich nicht viel verändert.
ZECHE (stolz): Moment, Moment. Ich bin eine ganz andere Person. Ich habe seither viel erlebt und bewege mich jetzt in ganz anderen Branchen.
KIRCHE (für sich selbst): Stimmt! Sie haben Dich wieder in Gang gebracht.
PALAIS (geschäftsmäßig): Meinen Glückwunsch, meinen Glückwunsch, Sie sind wieder dynamisch, und sogar jetzt attraktiv. Wissen Sie was? Ihre Biografie hat mich zur Gestaltung einer meiner multimedialen Eingänge inspiriert. Feuer aus roten LEDs, Rolltreppen bis ins Herz der Öfen...
ZECHE (bewegt sich erstmals ein wenig): Danke, danke, ich fühle mich sehr geehrt. Aber... kennen wir uns eigentlich schon?
KIRCHE (bewegt sich auch etwas): Ja, Sie sind neu in der Stadt, oder?
RATHAUS (macht einen Schritt nach vorne): Ich bitte um Verzeihung! Ich hatte euch noch nicht vorgestellt... (offiziell, atmet tief ein) Es ist mir eine Ehre, unsere brandneuen Recklinghausen-Arcaden willkommen zu heißen!
PALAIS (schüttelt sich): Hhmm, hhmm.
RATHAUS: Ich wiederhole, unser Palais-Vest willkommen zu heißen!
ZECHE (entsetzt, trennt sich von der Gruppe): Was? Ein Palast? Ich dachte, das mit dem Adel wäre längst vorbei!
KIRCHE: O weh, wir kriegen wieder Ärger...
RATHAUS (überzeugend): Immer mit der Ruhe. Ein bürgerlicher Palast für alle! Jedermanns Wunsch wird endlich erfüllt: einen Palast ohne Einladungskarte betreten zu können. Glanz, Schmuck und endlose Korridore ohne auch nur einmal buckeln zu müssen.
KIRCHE: Ich habe schon lange keinen Palast mehr gesehen... In meiner Erinnerung sehen Paläste anders aus.
PALAIS (verführerisch): Wenn die Idee eines Palastes Sie nicht anspricht, kann ich auch andere Wünsche erfüllen: ich bin eine Promenade, eine Ruhezone, ein Café, ein Spielplatz, eine Ausstellung, ein Mediacenter, ein Zuhause...
ZECHE (für sich): Ah, ein Chamäleon! Ich verstehe... Die Magie des Brandings! Wie ein Einkaufszentrum zum Palast wird: bauen Sie es aus Gipsplatten und Plexiglas, nennen Sie es Versailles und Sie sparen so jahrelange Arbeit. Heute verändern die Worte, was die Augen sehen.
KIRCHE: Aber wo bleibt die Leidenschaft und die Geduld? Sehen Sie mich an, ich bin eine Sammlung von Epochen und Stilen. Ich wurde zerstört, wieder aufgebaut, ergänzt. Heute bin ich Eins und Vielfalt. Ich bin eine Geschichte. (murmelt) Ein junger und erfahrungsloser Palast... Ich vermute, er guckt sich zu viel im Spiegel an.
PALAIS (beleidigt, aber stolz): Mein Spiegel sind die glänzenden Augen der Betrachter, die auf meine Eröffnung warten! Was haben Ihre Kupferspitzen und steinernen Dekore denn noch zu bieten? Wäre es nicht Zeit, sich neue Werbestrategien zu überlegen?
Sie laufen, jeder für sich, in verschiedene Richtungen um die Skulptur herum. Als das Rathaus zu sprechen beginnt, halten alle an.
RATHAUS (ängstlich): Heute habe ich einen fürchterlichen Albtraum gehabt. Die Blicke der Jüngeren gingen an mir vorbei. Wird es Zeit, dass ich mir eine Glaskuppel aufsetze?
KIRCHE: Renaissance, Weser-Renaissance, Neo-Weser-Renaissance...
Stimmt, Sie sind immerhin in Zitaten verankert! Das Gute ist, dass Sie vor dem Druck der Moden geschützt sind.
PALAIS: Eine Glaskuppel? Wer hätte denn Lust, hier vom Platz aus den Bürgermeister hinter seinem Schreibtisch zu sehen? Ich eher nicht. Liebes Rathaus,Glas würde die Sache nicht transparenter machen. Es ist allen klar, dass Ihre Spitze für Ihre Hauptfunktion steht. Schauen Sie, bei mir wird jeder sein Auto auf meinem Dach parken können. Ich trage die Bürger auf meinen Rücken!
RATHAUS: Gewiss, gewiss. Aber lassen Sie uns ehrlich sein. Sie haben zwar keine Spitze, sind dafür aber keineswegs kleiner, nur etwas weniger auffällig von weitem. Und außerdem, Ihre Verwaltung sitzt in der Spitze eines Hochhauses irgendwo in Köln oder Düsseldorf, wenn ich mich nicht täusche.
KIRCHE: Warum wird um Spitzen gestritten? Meine Spitze ist meine Stimme. Sie verbindet mich mit der Stadt.
ZECHE: Und meine Spitze war mein Muskel, meine Kraft. Heute ist es ein Logo geworden. Ich weiß noch nicht, ob ich mich darüber freuen soll.
PALAIS: Logo haben Sie gesagt? Jede Marke ist bei mir willkommen! Und Sie sind nicht irgendeine Marke, Sie sind eine Landmarke, das neue Image unserer Region! (fängt an zu singen und bewegt sich zwischen den anderen) Willkommen, Bienvenue, Welcome...
(dreht sich zur Gruppe) Apropos, ich hoffe ihr seid alle bei meiner Einweihung dabei. Hat jemand etwas anderes vor?
Das Rathaus, die Kirche und die Zeche entfernen sich von dem Palais während dieses alleine stehen bleibt.
ZECHE: Sie sprechen nur über sich selbst. Aber wer kümmert sich um diese drei fleißigen Arbeiter, die uns seit bald 30 Jahren tragen? Was sagen die Gewerkschaften? Ich dachte, solche langen Schichten wären längst abgeschafft.
RATHAUS: Sie werden nicht wieder von Ausbeutung sprechen? Alte Diskurse! Sie leisten einfach ehrenamtliche Arbeit. Wer wäre nicht stolz, die Verantwortung für die Stadt zu übernehmen? Vorbilder! Wichtige Bürger, nackt und ehrlich, wie sie zur Welt kamen.
KIRCHE: Und diese Blicke in die Ferne... ohne Zweifel in meine Richtung. Ich bin ihr Leuchtturm.
PALAIS (überzeugt): Aber sie laufen sicherlich auf mich zu! Über die Straße bis in meine Promenade und die Openair-Bereiche. Denn sehen Sie, ich biete ein harmonisches Ambiente an: Ein untrennbares Gefühl von Innen und Außen.
KIRCHE (rätseln): Eine Landschaft innerhalb von hohen Wänden? Lieber Kollege, das ist nur der erste Schritt. Ziel ist es doch, sich in den Menschen zu befinden. Das ist meine größte Erfüllung! (melodisch) Meine Glocke, ihre Kehle, meine Bögen, ihre Wimpern, meine Orgel, ihre Lungen.
RATHAUS: Inspirierend, deine Worte! (geht vor sich hin) Sind alle unsere Steine nichts als Attitüden? Wofür stehen meine Wände? Trage ich oder bin ich getragen? Und... seit wann haben Steine eine Stimme?
PALAIS: Zu viel Philosophieren steht uns nicht gut. Nehmen Sie sich zurück. Wir müssen bodenständig bleiben, gleichzeitig aber auch biegsam wie ein Akrobat sein. Sehen Sie mich an, ich habe eine klare Struktur, aber ein zartes Herz. Bei mir hat man Lust sich zu verlieren, die Zeit zu vergessen, zum Flaneur zu werden.
ZECHE: Nennen wir die Sache beim Namen: Die Architektur der Verführung. Ich lese gerade darüber... Interessantes Konzept, obwohl ich immer der Meinung war, dass Form und Funktion nicht voneinander zu trennen sind.
PALAIS: Ja, aber auch ein Denkmal muss sich um Marketing kümmern. Sponsoren finden, neue Besucher anziehen, Attraktionen anbieten! (leicht bedrohlich) Aber passen Sie auf, selbst Denkmale werden mit der Zeit übersehen!
ZECHE: Seien Sie nicht naiv, die Zeit rennt hinter jedem her, bis man eingefangen wird. Ich weiß, jedes Gebäude ist ein Idealist. Aber haben Sie nicht von geplanter Obsoleszenz gehört? Oder hat man das Ihnen verschwiegen? Sie haben vielleicht Ihren Vorfahren nicht kennen gelernt. Nach ein paar Jahren passte er nicht mehr zu den Marktbedürfnissen und wurde einfach gestürzt.
PALAIS: Verwechseln Sie bitte nicht Höfe und Paläste. (werbend) Jeden Tag bin ich wie neu geboren. Ich verkörpere die Wünsche des Zeitgeistes, die Träume des Bürgers. Ich atme mit ihm und gehe seinen Gang. Heute möchten die Leute wieder an Paläste glauben. Demokratische Paläste!
RATHAUS (enthusiastisch): Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Kaufen und Verkaufen eher eine Nebensache. Von mir bis zu Ihnen wird dieser gesamte Platz zu einer Agora, als ob sich unsere Wände umarmen würden!
KIRCHE: Ja, eine grenzenlose Gemeinde für die Stadt! Unsere Mauern sollen uns nie mehr trennen.
PALAIS (vertrauensvoll): Liebe Freunde, sehen Sie mich als Ihr rostfreies Scharnier: wo damals der Kaiserwall stand, uns schützte und trennte, werden meine Türen weit offen stehen. Am Horizont, das Revier und die Welt!
ZECHE (erleuchtet): Die Attraktionspunkte bewegen sich! Der Rand wird zum Hotspot. Clerget, König Ludwig, General Blumenthal, ihr seid jetzt international! Ich verspreche euch eine Weltreise auf einer Postkarte oder auf einem T-Shirt.
RATHAUS: Ja, wir treten in ein neues Zeitalter ein! Wir erscheinen wie nie zuvor als ein starkes Bild, als eine Einheit.
KIRCHE (abschließend): Wir haben voneinander viel gelernt. Wer hätte mir damals gesagt, dass ich ein virtuelles Portal öffnen würde. Heute treffen sich unsere Korridore und zwischen unseren Türen liegen gemeinsame Räume: Schuhladen mit spirituellem Anspruch, Showroom für engagierte Bürger, Maschinensaal als Lounge-Café... Die Funktionen verschmelzen miteinander!
Die vier Modelle bewegen sich gemeinsam im Takt der vorherigen Aufzählung.
ZECHE: Ich würde mit einer Brücke anfangen.
KIRCHE: Was meinen Sie?
ZECHE: Ja, von meinem Förderturm zur Rathausspitze.
RATHAUS: Wie? Wir sprachen über metaphorische Brücken!
ZECHE: Deswegen! Ich meine auf der Bronze.
PALAIS: Gut. Aber davor könntet ihr mir ein wenig Platz machen.
KIRCHE: Aber diese Platte ist ja viel zu eng für uns.
PALAIS: Dann weg damit! Ich bin groß genug, um euch alle zu tragen.
ZECHE: Aber das wird viel zu schwer für die drei Bürger.
RATHAUS: Soll ich uns einen vierten besorgen?
PALAIS: Keine Sorge, sie dürfen sich endlich einmal entspannen! Schauen Sie, dieser hier könnte liegen, mit seinem Kopf auf meinem Dach, wie auf einem Kissen. Dein Turm wäre eine ideale Rückenlehne für einen, der sitzen würde.
ZECHE (begeistert): Und einer könnte auf meinem Förderturm sitzen, seine Beine würden im Freien baumeln.
PALAIS: Und, wenn Dir Dein Turm zu schwer ist, könntest du ihn auch auf meinen Parkplatz stützen.
ZECHE: Oh, danke! du hast Recht, ich fühle mich schon leichter.
KIRCHE (visionär): Und wie wäre es mit einer gemeinsamen Spitze?
RATHAUS: Ja, eine Art Totem, die Summe unserer Höhen!
ZECHE: Aber dann kommt wieder die ewige Frage des „wer oben und wer unten“. Auf einer Spitze möchte ich nicht sitzen!
PALAIS: Nein, es geht nicht mehr darum! Meine Spitze ist dann auch deine Spitze. Wir werden zu einer Gesamt-Architektur.
KIRCHE: Genau. Und jeder Bürger ist ein Baustein davon. Eine Hand, eine Schulter, ein Knie, all das kann uns helfen größer zu werden!
ZECHE (sehr enthusiastisch): Ich sehe es schon! Eine Skulptur erwacht zum Leben! Ein Stein, ein Bein, unsere Zellen sind kaum noch voneinander zu unterscheiden.
Wenn die Modelle zu Wort kommen, bewegen sie sich jeweils hektisch in alle möglichen Richtungen.
RATHAUS (ängstlich): Oh... Hat jemand das Klopfen gehört?
PALAIS: Ich glaube es war ein Herzschlag.
KIRCHE: Von Ihnen? Oder von uns? Mir wird schwindelig.
ZECHE (halluziniert): Merkt ihr es auch? Ich glaube uns wachsen Füße.
RATHAUS: Meine Freunde, wir verlassen den Boden!
PALAIS: Oh nein, ich habe Höhenangst!
KIRCHE: Halt mich fest!
ZECHE: Aua! Deine Spitze!
RATHAUS: Einer für alle, alle für einen!
PALAIS: Ich falle...
KIRCHE: Dann stürzen wir alle!
RATHAUS: Hilfe, meine Bürger!
ZECHE: Neeeeein...
Stille. Keiner bewegt sich mehr.
KIRCHE: Ein Kopf... Ein Kopf ist gerutscht und hat unseren Turm ersetzt.
PALAIS: Warum steht dieses Bein hier?
ZECHE: Wer... wer hat den Förderturm gesehen?
RATHAUS: Was macht diese Hand? Wo ist unsere Treppe? Was macht diese Hand hier anstelle der Treppe?
KIRCHE: Wer hat die Jalousien geschlossen?
PALAIS: Ein Ohr wächst auf dem Fenster!
RATHAUS: Ich kann es nicht glauben... es gibt ein Loch in unserer Wand!
Oh! Ein Bauchnabel!
20. July 2014
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Eiskaffee Calamini, Pastoratsweg 1, 45699 Herten
Eulàlia Rovira & Adrian Schindler currently live and work in Berlin. They both studied liberal arts – her at the Universitat de Barcelona and him at the Beaux-Arts de Paris, and graduated from the postgraduate program Kunst im Kontext at the UdK Berlin. She recently focused on construction rituals and roundabout art, while he recently looked into war memorials in Germany and France. Together they built a model of a cathedral in a car, whilst crossing the country en route to the original. For Archipel in√est they have concerned themselves with miniature and monumental depictions, with respect to the changing history of the Ruhr region. The are currently preparing a sound piece for an exhibition in a chapel in Catalonia.